Vorhaltemaß II

oder

Gibt es selbstlenkende Geschosse?

Vor allem in den letzten Monaten hatte ich eine Menge Besucher auf meinem Beitrag Vorhaltemaß zu verzeichnen. Das freut mich. Ich bekomme aber auch den einen oder anderen kritischen Kommentar bzw. Anfragen mit dem Tenor: Das ist alles Theorie, die Praxis sieht anders aus. Auf meine Frage, warum denn, kommt meist die Antwort, dass, mit Verlaub, das alles Quatsch sei mit dem Vorhaltemaß. Das lese sich zwar theoretisch gut, und einen logischen Fehler könne man auch nicht finden. In der Praxis aber gehe das so: Man ist drauf, man lässt fliegen und bumms, fallen die um. Die Erklärung dafür: Das Geschoss übernehme ja auch die Horizontalbewegung des Gewehrlaufs beim Mitschwingen, und damit erfolge sozusagen eine automatische Korrektur der Schussbahn. Das Geschoss folgt nach diesem Ansatz also quasi dem Ziel. Wenn man so will, eine jagdliche Lenkwaffe also.

Befassen wir uns also einfach mal damit, denn ich höre das ja von Leuten, die oft gute Schützen sind und erfolgreiche Jäger. Und Tatsache ist, sie empfinden das so. Das liegt aber nicht daran, dass in diesen Fällen die Gesetze der Physik nicht mehr gelten oder zumindest kurzfristig aufgehoben sind. Der banale Grund ist: Gerade weil sie gute Schützen sind, und das wird man durch Übung, ist der Bewegungsablauf beim Schießen bei ihnen derart automatisiert, dass sie das, was sie schildern, auch subjektiv so empfinden. Tatsächlich aber halten sie, unbewusst, mit dem nötigen Maß vor. Die Realität und die Physik, die sprechen da nämlich objektiv eine eindeutige Sprache.

Was aber sagen die beiden, Realität und Physik? Warum ist es zu vernachlässigen, dass die Waffe ja in einer Seitwärtsbewegung ist? Überträgt sich der horizontale Bewegungsimpuls beim Mitschwingen und der Zielverfolgung etwa nicht auf das Geschoss?

Natürlich tut er das, und das Geschoss behält diesen Impuls auch, den es einfach mitbekommt, während es sich im noch geschlossenen Waffensystem befindet. Aber es bekommt eben nur so viel kinetische Energie mit, wie die absolute tatsächliche Bewegung des Laufs ist in dem Augenblick, in dem das Geschoss die Mündung verlässt, es mitgibt. Exakt diesen Horizontal- Impuls, nämlich den der Laufmündung beim Verlassen des Geschosses, bekommt es mit. 1)

Überprüfen Sie das mal: Das sind max. einige Zentimeter pro Sekunde, sagen wir mal drei bis fünf, je nach Geschwindigkeit und Entfernung des bewegten Ziels. Und drei bis fünf Zentimeter pro Sekunde seitlicher Bewegungsimpuls machen in 1/10 Sekunde, die Zeit, die das Geschoss bis zum Ziel braucht, im Ziel eben nur 0,3 bzw. 0,5 cm an seitlicher Abweichung aus. Oder 3 bis 5 Millimeter eben. Damit sollten wir uns nun wirklich nicht weiter aufhalten.

Das Geschoss bewegt sich also nicht, wie dieser Ansatz voraussetzen würde, in einer gedachten horizontalen Seelenachsen- Verlängerung weiter. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil es dazu während des Flugs horizontal beliebig beschleunigt werden müsste, völlig unmöglich, wir wären, beliebige Entfernung angenommen, schnell bei Überlichtgeschwindigkeit.

Das Geschoss bewegt sich einfach nur vorwärts, mit einer ganz geringen seitlichen Abweichung durch die horizontale Laufbewegung. Währenddessen bewegt sich das Ziel, das beschossene Stück, sehr viel schneller weiter als diese drei Zentimeter pro Sekunde, nämlich meist in Größenordnungen von 25 bis 45 Km/ h – und das sind zwischen 6,94 bzw. 12,50 Meter pro Sekunde. Oder, umgerechnet auf die übliche Schussentfernung von sagen wir 50 Metern bei einer Geschossgeschwindigkeit von 700 m/s und die daraus resultierende Zeit zwischen Schuss und Einschlag im Ziel (0,0714 Sek.), zwischen 49,6 bzw. 89,3 Zentimeter.

Auch wenn wir nach dem Schuss mit der Laufmündung weiter auf dem Stück sind und bleiben – das Geschoss tut das nicht, es „hinkt hinterher“, mit geradezu boshafter Konsequenz. Und deswegen müssen wir dieses Hinterherhinken, die Korrektur quasi vorwegnehmen – womit wir wieder bei unserem Vorhaltemaß wären.

Es nützt nichts, Physik bleibt Physik – wir müssen weiter üben.

Gerade Jungjäger. Wenn man dann so weit ist, dass das reflexartig geht, dass man das Vorhalten gar nicht mehr bewusst mitbekommt, sind wir da, wo wir hinwollen. Das dauert meist gar nicht so lange, wie manche das befürchten.

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Kirchveischede, 1. Dezember 2015

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Manfred Nolting

Ein Jagdmensch

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1) Das ist auch logisch, denn wäre es anders, müsste sich jede spätere Impulsänderung des Gewehrlaufs, ob horizontal oder Vertikal, nach Verlassen des Geschosses ja quasi per Telekinese auf das Geschoss übertragen können. Es gilt also die banale Weisheit: Ist das Geschoss aus dem Lauf, ist Ende im Gelände, das holst Du nicht mehr zurück. Danach folgt, Gott sei Dank selten, die bittere Lehre: „Jeder ist für seinen Schuss verantwortlich.“ 

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